Montag, 4. März 2013

Die Wandlung des Gehirns

Unser Denkorgan unterliegt einem stetigen Wandel. Alles, was wir täglich tun, denken und fühlen formt unser Gehirn in jeder einzelnen Sekunde. Dies ist die wohl wichtigste Erkenntnis der modernen Hirnforschung mit Folgen, an denen sich nicht nur die Philosophen den Kopf zerbrechen.


Die Wissenschaft spricht in diesem Zusammenhang von der sogenannten "Neuronalen Plastizität". Nervenzellen, Synapsen und sogar ganze Hirnareale verändern sich entsprechend ihrer Nutzung. So lässt sich das Gehirn ganz gezielt trainieren, so wie auch Hochleistungs- und Spitzensportler bestimmte Muskelpartien oder Spielzüge immer und immer wieder eintrainieren.

Wer allerdings glaubt, dass die Leisting des Gehirns ab einem gewissen biologischen Alter stagniert und sich das Gehirn nur noch sehr schwer verändern lässt, befindet sich, wie auch bis dahin die Hirnforschung, auf einem Holzweg. So hieß es lange Zeit auch im Volksmund: "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr." Diese Redensart können wir nach den heutigen Erkenntissen der Forschung getrost vergessen. Richtig müsste es heißen: Was Hänschen nicht gelernt hat, das kann Hans noch genauso gut lernen. Und das selbst in einem fortgeschrittenen Alter, vorausgesetzt Hans kann sich für die Dinge, die gelernt werden, ausreichend begeistern.

Die wirklich sehr empfehlenswerte Arte-Dokumentation "Neustart im Kopf – Wie sich unser Gehirn selbst repariert" nach dem gleichnamigen Buch des kanadischen Psychiaters und Psychoanalytikers Norman Doidge aus dem Jahre 2009 verdeutlicht an anschaulichen Beispielen die Plastiziät unseres Gehirns. Wie etwa das der Frau, die mit nur einer Hirnhälfte geboren wurde. Jedoch organisierte die Frau sich so, dass diese eine bestehende Gehirnhälfte wie ein ganzes Hirn funktioniert. Oder das Beispiel von dem Mann, dessen Gehirn nach einem Schlaganfall die Hirnströme in gesunde Hirnregionen umleitet und seinem gelähmten Arm die Bewegungsfähigkeit zurückgibt. All diese schier unglaublichen Lernprozesse ermöglicht unser Gehirn, das sich viel stärker verändern kann, als wir es bislang dachten.


Lesen Sie einen Auszug aus dem populärwissenschaftlichem Buch

"Neustart im Kopf" von Norman Doidge


 "Wir wissen heute, dass geistige Aktivität bei Tieren mehr Gehirnzellen entstehen lässt und die Lebensdauer von vorhandenen Gehirnzellen steigert. Zahlreiche Untersuchungen bestätigen, dass das Gehirn von Menschen, die geistig aktiver sind, besser funktioniert. Je gebildeter wir sind, desto körperlich und sozial aktiver sind wir, und je mehr wir uns mit geistig anregenden Aktivitäten beschäftigen, umso geringer die Wahrscheinlichkeit, dass wir an der Alzheimerschen Krankheit oder an Altersdemenz erkranken.

 Doch nicht alle Aktivitäten sind in dieser Hinsicht gleichermaßen sinnvoll. Aufgaben, die wirkliche Konzentration erfordern ­ das Erlernen eines Musikinstruments, Brettspiele oder Tanzen ­, lassen sich mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit für Altersdemenz in Zusammenhang bringen. Das Erlernen neuer Tanzschritte ist eine körperliche und geistige Herausforderung und verlangt große Konzentration. Weniger intensive Aktivitäten wie Kegeln, Babysitting oder Golf verringern dagegen die Wahrscheinlichkeit einer Alzheimer-Erkrankung nicht.

  Diese Untersuchungen sind zwar interessant, doch sie beweisen noch nicht, dass wir die Alzheimersche Krankheit tatsächlich mit bestimmten Gehirnübungen vermeiden können. Die erwähnten Aktivitäten lassen sich zwar zu einer geringeren Erkrankungswahrscheinlichkeit in Beziehung setzen, doch damit ist noch kein kausaler Zusammenhang bewiesen. Es ist durchaus möglich, dass Menschen in einem sehr frühen und noch nicht erkennbaren Stadium der Krankheit ihre Aktivitäten verlangsamen und schließlich nicht mehr aktiv sind. Bislang können wir nur sagen, dass ein vielversprechender Zusammenhang zwischen Gehirntraining und einer Vermeidung der Alzheimerschen Krankheit besteht.

  Wie Michael Merzenichs Arbeiten zeigen, lässt sich dagegen eine Entwicklung, die häufig mit der Alzheimerschen Krankheit verwechselt wird ­ der typische Gedächtnisschwund, der mit fortgeschrittenem Alter erkennbar wird ­, definitiv mithilfe von mentalen Übungen aufhalten und sogar umkehren. Stanley Karansky klagte zwar nicht über ein Nachlassen seiner kognitiven Fähigkeiten, doch er erlebte in der Tat einige »Seniorenmomente«, die zum allgemeinen Gedächtnisschwund dazugehören. Der Nutzen, den er aus den Übungen zog, verdeutlichte, dass er in der Tat einige umkehrbare kognitive Defizite hatte, derer er sich nicht bewusst gewesen war.

  Stanley Karansky macht alles richtig, um seinen altersbedingten Gedächtnisschwund aufzuhalten, und ist ein Vorbild für jeden von uns. Körperliche Aktivität ist nicht nur deshalb sinnvoll, weil sie die Bildung neuer Gehirnzellen fördert, sondern auch, weil sie das Gehirn mit Sauerstoff versorgt. Gehen, Radfahren oder jede Form des Herz-Kreislauf-Sports stärkt das Herz und die Blutgefäße, die das Gehirn versorgen, und tragen dazu bei, dass wir uns geistig wacher fühlen. Das wusste schon der römische Philosoph Seneca vor zweitausend Jahren. Neuere Forschungen zeigen, dass Sport die Produktion des Nervenwachstumsfaktors BDNF fördert, der, wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, bei der plastischen Veränderung eine entscheidende Rolle spielt. Alles, was Herz und Blutgefäße fit hält, kräftigt auch unser Gehirn. Dazu zählt auch eine gesunde Ernährung. Es ist gar kein Leistungssport erforderlich, es genügt, den Körper regelmäßig auf natürliche Weise zu bewegen. Wie van Praag und Gage erkannten, regt schon zügiges Gehen die Entwicklung neuer Gehirnzellen an.

  Sport stimuliert die Sinnes- und Bewegungszentren unseres Gehirns und erhält seinen Gleichgewichtssinn. Diese Funktionen bauen mit zunehmendem Alter ab, was uns für Stürze anfällig macht und dazu führt, dass wir aus Vorsicht zu Hause bleiben. Nichts beschleunigt den Verfall des Gehirns derart wie der Aufenthalt in der immergleichen Umgebung. Die Eintönigkeit lässt unsere Dopamin- und Aufmerksamkeitssysteme verkümmern, die für den Erhalt der Neuroplastizität entscheidend sind. Eine abwechslungsreiche Tätigkeit wie das Erlernen eines neuen Tanzes hilft nicht nur, Gleichgewichtsprobleme zu vermeiden, sondern hat den positiven Nebeneffekt, uns unter Menschen zu bringen und auch auf diese Weise das Gehirn zu erhalten. Tai Chi ist zwar bislang wenig erforscht, doch es erfordert ebenfalls erhöhte Konzentration auf Bewegungsabläufe und regt damit das Gleichgewichtssystem des Gehirns an. Außerdem ist es eine meditative Tätigkeit und baut nachweislich Stress ab, womit es wiederum zum Erhalt des Gedächtnisses und des Hippocampus beiträgt.

  Stanley Karansky lernt ständig Neues, was nach Ansicht des Harvard-Psychiaters George Vaillant ein entscheidender Faktor für Glück und Gesundheit im Alter ist. Vaillant leitet die größte und längste derzeit laufende Untersuchung des menschlichen Lebenszyklus, die Harvard Study of Adult Development. Diese untersucht 824 Personen vom Teenagealter bis zu ihrem Lebensende. Die Testpersonen stammen aus drei Gruppen: aus Absolventen der Harvard University, sozial schwachen Einwohnern der Stadt Boston und Frauen mit einem überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten. Einige dieser Menschen, die heute über achtzig Jahre sind, werden nun schon seit sechs Jahrzehnten beobachtet. Vaillant kam zu dem Schluss, dass Alter nicht nur ein Verfallsprozess ist, wie viele jüngere Menschen denken. Ältere Menschen entwickeln häufig neue Fähigkeiten und sind weiser und sozial kompetenter als jüngere Erwachsene. Diese älteren Menschen neigen weniger zu Depressionen als junge Menschen und leiden in der Regel erst kurz vor ihrem Tod unter behindernden Krankheiten.

  Natürlich erhöhen anspruchsvolle geistige Aktivitäten die Wahrscheinlichkeit, dass die Gehirnzellen des Hippocampus überleben. Eine Möglichkeit ist die Durchführung von erprobten Gehirnübungen, wie sie Michael Merzenich entwickelt hat. Doch das Leben ist zum Leben da, und nicht zum Üben, also sollten wir auch Dinge tun, die wir immer schon tun wollten, denn dann sind wir hoch motiviert, und dies ist ein entscheidender Faktor. Im Alter von 98 Jahren machte Mary Fasano ihren Bachelor an der Harvard University. David Ben Gurion, der erste Premierminister Israels, brachte sich im Alter selbst Altgriechisch bei, um die antiken Klassiker im Original lesen zu können. »Wozu soll das gut sein?«, könnten Sie sich fragen. »Wem will ich etwas vormachen? Ich bin am Ende meines Weges angekommen!« Diese Art zu denken ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, denn sie beschleunigt den Verfall eines Gehirns, das alles verliert, was es nicht mehr benutzt.

  Im Alter von neunzig Jahren entwarf der Architekt Frank Lloyd Wright das Guggenheim-Museum. Mit 78 Jahren erfand Benjamin Franklin die Brille mit zwei Gläsern. In ihrer Untersuchung der Kreativität fanden H. C. Lehman und Dean Keith Simonton heraus, dass wir zwar in den meisten Lebensbereichen zwischen 35 und 55 auf dem Höhepunkt unserer Kreativität stehen, dass aber Menschen zwischen 60 und 80, obwohl sie langsamer sind, noch immer so produktiv sind wie Mitte 20.

  Der 91-jährige Cellist Pablo Casals wurde von einem Studenten gefragt: »Maestro, warum üben Sie noch?«. Darauf antwortete Casals: »Weil ich Fortschritte mache.«"
erschienen 2008 im Campus Verlag

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